Medienberichte über tragische Zwischenfälle bei ambulanten Operationen verunsichern Patienten. Bei einer Podiumsdiskussion am 6. November 2013, zu der das Anästhesie-Netz Hamburg (ANH) eingeladen hatte, nahmen die Experten die Vorwürfe selbstkritisch unter die Lupe.
„Patienten, bei denen eine ambulante Operation geplant ist, haben häufig mehr Angst vor der Narkose als vor dem eigentlichen Eingriff.“ Mit diesen Worten eröffnete der niedergelassene Anästhesist Jörg-Michael Wennin, Vorsitzender des Anästhesie-Netzes Hamburg (ANH) am 6. November 2013 eine Podiumsdiskussion zur Sicherheit ambulanter Narkosen, zu der das ANH die beiden Experten Prof. Uwe Schulte-Sasse und Dr. Frank Vescia eingeladen hatte und an der etwa 60 niedergelassene und im Krankenhaus tätige Anästhesisten aus dem Groß-Raum Hamburg teilnahmen.
Prof. Schulte-Sasse war bis 2009 Ärztlicher Direktor, bis 2011 Direktor der Klinik für Anästhesie und Operative Intensivmedizin an den SLK-Kliniken Heilbronn und arbeitet heute als Gutachter in Arzthaftungsfällen. Er gilt als strenger Kritiker defizitärer Organisationsstrukturen in der ambulanten Anästhesie. Dr. Vescia ist niedergelassener Anästhesist sowie Leiter einer Praxisklinik in Regensburg und setzt sich im Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) für Sicherheitsstandards bei ambulanten Narkosen ein.
Prof. Uwe Schulte-Sasse wies in seinem Vortrag darauf hin, dass im Gesundheitswesen generell eine politisch forcierte Markttransformation zu beobachten sei: „Es gibt einen fatalen Trend zur Kostenreduktion, so dass Leistungen zunehmend in Billigstrukturen mit zum Teil mangelhaften Sicherheitsstrukturen erbracht werden.“ Sein besonderes Augenmerk galt dabei der postoperativen Überwachung im Aufwachraum: „Wenn einzelne Anästhesisten auf fachkundiges Personal verzichten und hier improvisieren, dann muss das zwar nicht immer schief gehen, es kann aber nicht immer gut gehen.“
Die Fachgesellschaften hätten zwar umfangreiche Leitlinien und Empfehlungen herausgegeben, nach welchen Qualitätsstandards ambulanten Narkosen erbracht werden müssen, doch es fehle an wirksamen Kontrollen und Sanktionsmöglichkeiten, beispielsweise über die Vergütung, kritisierte Schulte-Sasse.
Dass es schwarze Schafe in der Branche gibt, die es mit der Patientensicherheit nicht so genau nehmen, stand auch für Dr. Frank Vescia nicht zur Debatte. „Ich bin allerdings strikt dagegen, dass wir deswegen ein ausuferndes staatliches Kontrollsystem mit Videoüberwachung und noch mehr Bürokratie etablieren.“
Vescia setzt stattdessen auf innerärztliche Maßnahmen zur Qualitätssicherung im Sinne einer freiwilligen Selbstkontrolle. So seien beispielsweise Peer Visits, also Besuche von Fachkollegen mit anschließender gemeinsamer Auswertung, ein gutes Mittel, um organisatorischen Schwächen in einer Einrichtung auf die Spur zu kommen. Das Anästhesie-Netz Berlin-Brandenburg hat kürzlich ein Projekt zu Peer Visits in der ambulanten Anästhesie gestartet. Die Erfahrungen mit den ersten Besuchen dort zeigen, dass sowohl der besuchte Arzt als auch der Visitor sehr vom kollegialen Austausch auf Augenhöhe profitieren. „Wenn diese Maßnahmen auch zertifiziert werden, dann ist dies der bessere Weg, der mittelfristig auch zu einer Marktbereinigung führen wird“, meinte Vescia.
Der niedergelassene Anästhesist wies außerdem darauf hin, dass auch viele Kliniken nicht alle Mindestanforderungen an einen anästhesiologischen Arbeitsplatz erfüllen: „Qualifiziertes Personal ist überall Mangelware, im niedergelassenen wie im stationären Sektor.“ Damit sprach Vescia auch den Zuhörern im Plenum aus der Seele: „Die Fragestellung muss eigentlich nicht lauten, wie sicher ambulante Narkosen sind, sondern wie sicher Narkosen sind, bei denen die allgemein gültigen Qualitätsstandards unterschritten werden, ob nun in der Klinik oder in der Praxis“, sagte eine niedergelassene Anästhesistin und betonte: „Auch in den Kliniken gibt es zum Teil erschreckende Organisationsdefizite.“
Ein anderer Zuhörer gab zu bedenken, dass niedergelassene Anästhesisten sich nicht an den Mängeln des Krankenhaussektors messen sollten: „Wir müssen in unserem eigenen Sektor Spitzenqualität erbringen. Dann müssen wir uns auch nicht vor unabhängigen und unangekündigten Kontrollen fürchten.“ Grundsätzlich ende die Verantwortung des Anästhesisten erst dann, wenn die Narkose keinerlei Einfluss mehr auf den Patienten ausübe – und zwar unabhängig davon, welche Vereinbarung zwischen dem Operateur und dem Anästhesisten in puncto Honoraraufteilung getroffen wurde.
Bei eben diesen Vereinbarungen scheint es aber in vielen Fällen zu hapern, wie die Kommentare anderer Diskussionsteilnehmer zeigten. Weil Patienten sich in der Regel für einen bestimmten Operateur und nicht etwa für einen bestimmten Anästhesisten entscheiden, erwarten offenbar einige Operateure vom Anästhesisten eine Art Provision für die „Anwerbung“ des Patienten. Dass die Zuweisung gegen Entgelt – in den Medien auch oft „Fangprämie“ genannt – nach dem Berufsrecht nicht gestattet ist, versucht so manch einer über den Hebel der Honoraraufteilung für die gemeinsamen Operationsleistungen zu umgehen. „Operateure setzen Anästhesisten unter Druck und wählen dann den billigsten Anbieter. Da findet ein regelrechter Qualitätsunterbietungswettbewerb statt“, berichtete ein Teilnehmer.
Dennoch wollen die meisten Teilnehmer im Plenum von einem „durchorganisierten System der Fehlorganisation“ nichts wissen: „Fakt ist, dass die meisten der tragischen Zwischenfälle in ganz bestimmten Bereichen aufgetreten sind, nämlich in der HNO-Chirurgie, bei zahnärztlichen Operationen und in der ästhetischen Chirurgie“, gab ein Anästhesist zu bedenken. HNO-Operationen erforderten aufgrund des eingriffsbedingten hohen Nachblutungsrisikos eine personalintensive postoperative Betreuung. In der ästhetischen Chirurgie drängten häufig dubiose OP-Zentren mit Dumpingpreisen an den Markt, die sich auch auf die Qualität der anästhesiologischen Leistung auswirke. Und bei Zahnärzten könne ein Anästhesist sich nicht immer darauf verlassen, dass die Praxisstrukturen auch wirklich für einen sicheren Operationsbetrieb geeignet sind.
Fazit des ANH-Vorsitzenden Jörg-Michael Wennin nach einer sehr lebhaften und engagierten Diskussion: „Es gibt nicht den einen Königsweg, um anästhesiologische Zwischenfälle zu vermeiden, sondern viele verschiedene Elemente, die jeder von uns in seinem Arbeitsalltag sinnvoll kombinieren sollte. Der Arztberuf ist ein freier Beruf und sollte dies auch bleiben. Als Ärzte sind wir dem Patienten verpflichtet, der sich uns anvertraut und den wir bestmöglich durch seine Therapie begleiten sollen.“ Auch Wennin sprach sich für Peer Visits als wichtige Maßnahme zur Qualitätssicherung aus: „Gegenseitige Praxisbesuche nach einem standardisierten Handbuch sind eine gute Gelegenheit, sich die eigene Betriebsblindheit bewusst zu machen, die sich wie in jedem anderen Job auch gelegentlich einstellt.“
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